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Das Licht des Lebens

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ist unser Körper, unser Herz der gleichen Meinung, dass nur Weihnachten

 

„Das Fest der Liebe ist“?

 

 

Die Lichter des Autos verstummten, die Familie betrat die kleine Eingangshalle. 

Hell leuchtend verkündet der überdimensionale Tannenbaum- es ist wieder Weihnachten. Auch hier, im städtischen Altenheim, war der 24.Dezember angekommen. Das gesamte Jahr über bediente es alte Seelen, deren Sinn nunmehr bestand, ab und zu oder nur noch zu Weinachten- Besuch aus der Vergangenheit zu erwarten.

 

„Vergangenheit- dass ist nur das da draußen“- so formulierte es der Altensprecher für alle nun hier Lebenden. Manche lebten jetzt in einer Welt- andere hingegen passierten noch zwei Welten. Es vereinte das vergangene Leben und das Leben hier- meist in der Fremde. Daher ist wohl verständlich, dass viele der Älteren in der Vergangenheit schwelgen- da sie das „Jetzt“ nicht fühlbar berühren wollen.

 

Doch nun zurück zur Familie Sommer, die mitten im Winter ihren Besuch bei Renate- der Mutter von Richard, angemeldet hatte. Gemeinsam mit dem Enkelsohn Leon standen sie nun vor der netten Frau am Empfang.

 

Doch Leon, vier Jahre alt, konnte nicht warten- es war ohnehin ein Altersheim, dessen Energie-Mühlen langsamer mahlten. Er sauste wie ein kleiner Wirbelwind durch alle noch offen stehenden Räume. Zuerst sah er sich im leeren Essensraum um, dann im Gesangsraum mit dem dunklen Klavier. Daraufhin wurde jede menschenleere Toilette von ihm spitzbübisch vom Spalt unten anvisiert- doch auch hier war keiner da, der mit ihm Verstecken spielen wollte. Keine Seele schien mit ihm spielen zu wollen- dabei liebte er das Versteckspielen mit den Erwachsenen. Seine kleinen Ärmchen- sonst voller Energie, hingen traurig an ihm herunter „Es ist keiner zum Spielen da“ entsprang es ihm. Bei diesen Worten wurde es Richard schwer, schwer auch deshalb, weil die Lebendigkeit in seiner Mutter seit drei Jahren immer mehr verblasste. Leon suchte nun Papas Hand und beide gingen gemeinsam zum Zimmer 19, gefolgt von Richards Frau. Ein liebevoll gestalteter kleiner Adventskranz zierte hier die Tür. Sicher wieder ein selbstgebastelter Adventskranz- dachte Richard wehmütig an die alten Zeiten. An die Jahre zurück, als er seine sehr kreative Mutter oft zuschaute, wenn sie etwas selbst bastelte. In Gedanken versunken, schubste seine Frau Sandra sanft durch die „Advents-Kranz-Tür“, bis alle drei gleichzeitig im Zimmer standen.

 

Renate erwartete, wie immer sehr gepflegt und grazil sitzend, ihren lang ersehnten Besuch. Doch das Licht in ihr wurde von Weihnachten zu Weihnachten immer schwächer. Dieses Jahr, heute, blieb sie nun vollständig sitzen, weil sie einfach nicht mehr imstande war, aufzustehen. „Ach, wären sie doch zwei Monate eher zu Weinachten gekommen“- seufze sie unausgesprochen tief- „dann hätte ich ihnen schon am Eingang entgegen gehen können“. Denn wochenlang hatte sie sich schon vorbereitet, dem kleinen Leon nun standhaft entgegen zu gehen- was nicht mehr gelang. Doch ihre gesamte Kraft hatte sie ihrem bisherigen Leben geschenkt. Einzig ihre Erinnerungen waren noch vollständig stark und intakt. Leon sah diese Frau und zunächst versteckte er sich hinter Papas Beinen. Sehr bewegt begrüßten sich die Erwachsenen- der alten Dame innigst zugeneigt. Renate nahm nun wahr, wie die Schwiegertochter Sandra Leon fragte, ob er zur Oma möchte, um ihr das Weihnachtsgeschenk zu geben. Noch etwas unsicher sann der Kleine nach. Doch eine Oma wäre nicht eine Oma, wenn sie nicht Unmögliches möglich gemacht hätte. Sie sprang nun- sitzend in die Lücke einer Antwort ein und bot an, zuerst das Geschenk an Leon geben zu dürfen.

 

Mit Hilfe der Pflegekräfte hatte sie ein Puzzle gebaut. Es war mit den Fotos der Heimat von Leon, seinem Kindergarten und in der Mitte das Altenheim der Oma hergestellt wurden. Doch das Besondere war, dass das Puzzle aus dem Holz der Gegend gebaut wurde- sowie an  der Vorderseite ein betreffendes Foto der Orte zu sehen war. Jedes Holzteil hatte ein Türchen im hinteren Teil. Und so schaffte es Leon sofort alleine, die ersten Süßigkeiten darin zu befreien. Jedoch, jedes Puzzleteil verbarg ein neues Geheimnis- und erst, wenn der Weg von Leon´s  Zuhause zum Kindergarten- dann wieder zur Mitte zurück gebaut wurde, konnte der kleine Wissbegierige dann die gesamten Geheimnisse hinter den Türchen lüften.

 

Nun war es Zeit, dass sich beide Frauen, Renate und Sandra wieder mal sahen, zu lange war ihr Kontakt auf das Telefon beschränkt. Sandra spürte, dass mit jedem Jahr ihre Umarmungen inniger denn je wurden. Die Zeit verschluckte nun jeden Abstand- der früher scheinbar zwischen ihnen stand.

 

Heute war es wieder so weit, Sandra nahm nun ihren Mut und ihre Achtsamkeit bei der inneren Hand und sprach aus, was das Familiengeschenk für Renate, der Mutter und Oma in diesem Jahr war.

 

Ein kurzes Räuspern, dann: „Liebe Renate, wir haben uns für dich dieses Jahr ein besonderes Geschenk einfallen lassen. Und hoffen sehr, dass du das Geschenk annehmen kannst“!

 

Renate, mit dem Rücken dem Fenster zugewandt, war noch immer im Besitz besten Hörsinnes. Gespannt fragte sie, „Ja, was habt ihr mir denn mitgebracht, etwa den schönen Sommer?“ Dabei lachten ihre Augen bübisch über dieses Wortspiel ihres Familiennamens und der Jahreszeit. Auch Richard verfügte über diesen ausgesprochen guten Hörsinn. Er bekam gerade mit- mitten im Puzzle-Aufbau- wie seine Spannung stieg. So sehr, dass er kurz abwesend den beiden Frauen lauschte.

„Papa…Papa, nun schau doch, was ich hier habe…“erinnerte Leon seinen Vater.

 

Doch währenddessen antwortete Sandra im engen Feld der Frauen:

„Liebe Renate, wir werden in sechs Monaten in unser neues größeres Haus einziehen. Im Erdgeschoss ist dann eine kleine Wohnung- nur für dich vorhanden. Ringsherum ist ein schöner Garten und vor allem, du könntest uns dann so oft du magst, sehen.“

 

Tränen liefen Sandra nun über ihre Wangen, über ihr Herz- das „jahrelange Fehlinterpretieren“ von Gefühlen wurde nun reingewaschen. Sie wusste, wie Richard- ihr liebevoller Mann, schweigend darunter litt.

 

Ein tiefes Seufzen, dann fragte Sandra beherzt:

„Würdest du dein Heim verlassen und zu uns ziehen, zu Richard, Leon und mir“?

 

Stille….nur die leise Beschallung durch den Heimlautsprecher mit seinem Weihnachtslieder-Angebot war zu hören. Ein tiefer Seufzer nun auch bei Renate…

 

Nun gesellte sich auch Richard dazu: „Es wäre schön Mutter, wenn du zu uns ziehen würdest“! „Warum“? war der einzige Ton aus Renates Mund.  Sie versank sofort wieder in Erinnerungen, wie seit langem schon. Sprachlose Momente erfüllten den Raum, bis Renate antwortete.

 

„Lieben Dank für euer schönes und liebes Geschenk- doch ich werde dieses Geschenk nicht annehmen. Denn, es hat lange gedauert, bis ich akzeptiert habe, aus meiner kleinen Stadt hier her verlegt zu werden. Nun habe ich mich arrangiert, damit abgefunden. Mittlerweile habe ich hier einige Freunde gefunden, die mich mögen und so nehmen, wie ich bin- und ich bin sicher nicht jeden Tag gleich oder einfach…“.

 

Tränen der Erleichterung ihres angestauten Herzens entsprangen nun der alten grazilen Dame- die vom Fensterplatz noch immer nicht gewichen war. Die Dämmerung machte nun aus ihrer Silhouette am Fenster eine wunderschöne Frau- scheinbar zeitlosen Alters. Sie räusperte sich nun- zur Entspannung aller und sprach:

 

„Doch ich danke euch, dass ihr mich nochmals nahe in euer eigenes Leben integrieren wolltet“. Richard rannen ebenso die Tränen, Sandra bebte sichtbar. Denn alle verstanden, was es heißt: „Die Wurzeln schlagen nicht ewig aus, um in einem neuen Land anzuwachsen“!

 

Genau in diesem Moment bemerkte Sandra, dass Leon nicht mehr im Ram war. Besonnen ging sie der offenen Tür nach. Richard blieb im Raum und gesellte sich seiner Mutter dazu- er nahm Platz am gegenüberstehenden Sessel. Beide verband nun auch der gemeinsame Blick aus dem Fenster, während beide Hände sich ebenso mit dem Gegenüber verbunden fühlten. Nach einer unendlich erschienen halben Stunde standen Leon und seine Mama wieder im Raum. Sandra bat Richard kurz mitzukommen. Er folgte seiner Frau ins Nachbarzimmer. Dort war eine ähnlich alte betagte Frau. Doch sie schien die Zimmerbeleuchtung des eigenen Raumes erhellen zu können. „Hallo Richard, Leon war mal wieder bei mir- wie auch letztes Jahr, ich glaube, er hat sich recht gut daran erinnert. Und daher weiß ich, dass wieder Weihnachten ist. Schön, dass ihr da seid, Renate freut sich sicher sehr“!

 

„Und du, hast du keinen Besuch“? fragte Richard. Diese obligatorische Frage war nun schon gestellt wurden, wenn auch sinnlos. Weil Emilia seit ca. 10 Jahren keinen Besuch mehr gehabt hatte. Denn es gab keine Angehörigen mehr, die sich an sie erinnerten oder sie waren nicht mehr am Leben. Doch anders, als die meisten Heimbewohner, lächelte sie fast immer aus tiefstem Herzen, unübersehbar.

 

Ihre Antwort war wie immer ein Geschenk für alle, die dieses annehmen wollten:

 

„Weißt du Richard, ich habe jeden Tag Weinachten, jeden Tag in mir. Denn jeden Tag freue ich mich, dass ich noch die Augen aufmachen kann und dem neuen Tag mein Lächeln schenken kann. Genauso gern tat ich es als Kind auch jedes Weihnachten voller Freude zu begrüßen. Denn Weihnachten ist für mich ein Fest der Freude, der Liebe. Und die Liebe ist jeden Tag da, sie verlässt uns nie- auch nicht an Weihnachten.

 

Daher weiss ich, jeder Tag ist Weihnachten, jeder Tag ist Liebe“. Erhellend entspannten sich die Gesichter von Richard und Sandra.

 

„Und nun, auf deine Frage zu einem Besuch:

 

...Ja, in der Tat, für viele erscheint Weihnachten zwei-gespalten. Erinnerungen an menschliche familiäre Nähe und nun hier abseits davon- im Heim. Für mich ist jeder Tag „Mein Besuch“. Und ihr seid heute die Krönung des Festes- nicht mehr und nicht weniger.

Doch auch ohne euch, ohne Besuch werde ich noch solange dankbar strahlen, bis mein Licht auf Erden erlischt- um im Himmel neu zu beginnen“.

 

Leon saß die gesamte Zeit ruhig und angeschmiegt auf Emilias Schoß, wohlig  fühlend, dass Wahrheit Liebe ist.

 

 

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